Chronische Schmerzen

Chronische Schmerzen sind oft komplex

Chronische Schmerzen sind komplex: Ein Paar auf einer Wanderung
Chronische Schmerzen Experte André Ljutow

Dr. André Ljutow
FMH für Orth. Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates
Zentrum für Schmerzmedizin Nottwil
Vorstandsmitglied Swiss Pain Society

Bei chronischen Schmerzen fehlt oft eine klar erkennbare körperliche Ursache. Trotzdem sind die Schmerzen real. Mit dem biopsycho-sozialen Krankheitskonzept können die Schmerzen hingegen besser verstanden und vor allem auch behandelt werden. Dafür ist ein speziell ausgebildetes Team von Fachleuten wichtig.

Was bedeutet für Sie ein anhaltender Schmerz?

Dr. André Ljutow: Ein Schmerz, der längere Zeit anhält, weckt in mir immer den Verdacht, dass nicht nur körperliche Erkrankungen oder Bedingungen für diesen Schmerz verantwortlich sind. Es können auch emotionale, psychische und soziale Faktoren und Belastungen vorliegen: diese unterschiedlichen Ebenen bewirken im Zusammenspiel, dass dieser Schmerz anhält.

 

Wie sieht das Verhältnis dieser verschiedenen Faktoren und Ebenen aus?

Ljutow: Das ist von Person zu Person unterschiedlich. So stecken beispielsweise sonst gesunde und nicht von Stress geplagte Personen ein Schleudertrauma mit Schmerzen relativ schnell weg. Anders bei Personen, die verschiedenen Belastungen und Problemen in Beruf, Partnerschaft und Familie ausgesetzt sind oder andere Vorerkrankungen haben. Dann kann dieser Unfall der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt und es entsteht ein anhaltendes Schmerzproblem. Dieses kann sich dann sehr schnell auf den anderen Ebenen zeigen.

 

Dann führen diese anderen Ebenen zum Schmerz?

Ljutow: Natürlich haben anhaltende Schmerzen immer einen körperlichen Anteil. Aber das muss nicht zwangsläufig ein «Schaden» sein, sondern können funktionelle Störungen auf der körperlichen Ebene sein. Beispielsweise Spannungskopfschmerzen: Sie fassen sich an den Nacken und spüren eine Verspannung. Sie können den Kopfschmerz auslösen, doch der Schmerz kann auch die Verspannungen bedingen oder beeinflussen. Andere Faktoren auf der psychischen, emotionalen und sozialen Ebene können hinzutreten und diese Verspannungen unterhalten oder verstärken.

Das Problem ist, dass die schmerzverursachenden Faktoren mit den gängigen Untersuchungsmethoden wie MRI, Röntgen oder auch Laboruntersuchungen nicht immer erfasst werden können. Damit beginnen die Missverständnisse, wenn der Befund lautet, dass nichts gefunden wurde. Die Betroffenen leiden an realen Schmerzen und tun dies auch kund: «Da ist etwas.» Darum ist es bei der Suche nach der Schmerzursache auf der körperlichen Ebene wichtig, auch das funktionelle Zusammenspiel der Körperstrukturen zu untersuchen. Ein verspannter Muskel wird durch das MRI nicht entdeckt, kann aber sehr starke Schmerzen auslösen.

 

Diese Sichtweise auf den chronischen Schmerz wird als bio-psycho-soziales Krankheitskonzept bezeichnet. Können Sie das noch weiterausführen?

Ljutow: Dieses Konzept besagt, dass eine Störung, die auf einer Ebene nicht beseitigt werden kann, Auswirkungen auf andere Ebenen hat. Ein Beispiel: Das Immunsystem beseitigt in der Regel eine bekannte Virusinfektion ohne viel Symptome. Neue Infektionen hingegen verursachen körperliche Symptome und ein Krankheitsgefühl. Man fühlt sich schlecht und kann vielleicht ein paar Tage nicht arbeiten. Neben dem eigenen Körper (Fieber, Abgeschlagenheit) ist die Stimmung («Leiden», Unzufriedenheit) und das soziale Umfeld (Krankmeldung im Betrieb, Absage von sozialen Verpflichtungen) betroffen. Schon sind weitere Ebenen am Krankheitsgeschehen beteiligt - die psychischen und sozialen – und beeinflussen den Verlauf. Anhaltende Störungen in einer Ebene breiten sich in Nachbarebenen aus.

Dabei ist es völlig unwichtig, auf welcher Ebene eine Störung auftritt, sie hat immer Auswirkungen auf die anderen Ebenen. Daraus kann sich Krankheit oder chronischer Schmerz entwickeln.

 

Wie sieht eine Behandlung nachdem bio-psycho-sozialen Krankheitskonzept aus?

Ljutow: Die Erfassung des Problems ist für einen einzelnen Therapeuten unmöglich. Es gibt keine ausgebildeten Spezialisten oder Spezialistinnen, die das ganze medizinische Spektrum beherrschen und auch noch in Psychotherapie und Sozialarbeit ausgebildet sind. Um den chronischen Schmerz richtig einzuordnen und zu sehen, wie im Einzelfall die Mosaiksteine der verschiedenen Ebenen verteilt sind, braucht es ein Team von Fachpersonen mit medizinischem und psychologischem Wissen. Idealerweise sollte auch die Physiotherapie für die funktionellen Aspekte im Team vertreten sein und vielleicht braucht es auch eine soziale Beratung. Dies wird als interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bezeichnet.

Idealerweise erfolgt eine solche Untersuchung und Behandlung ambulant oder stationär in einer spezialisierten Abteilung oder Klinik, Stichworte sind Schmerzpraxis, Schmerzambulanz oder Schmerzklinik. Damit lassen sich jahrelang erfolglose Therapiebemühungen, Fehldiagnosen und unnötige Untersuchungen verhindern.

Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass Schmerzen für die Betroffenen immer real sind und nicht eingebildet.

Dr. Ljutow

Was raten Sie Betroffenen von anhaltenden Schmerzen?

Ljutow: Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass Schmerzen für die Betroffenen immer real sind und nicht eingebildet. Hier gibt es bei der Bevölkerung und auch in ärztlichen Kreisen noch eine Wissenslücke, werden doch Schmerz-Patient*innen oftmals nicht ernst genommen. Betroffene sollen sich nicht scheuen, auch eine Zweitmeinung einzuholen. Auf der Webseite der Swiss Pain Society findet sich eine Liste mit allen Fachpersonen, die eine spezielle Ausbildung zum Schmerzspezialisten durchlaufen haben und für das Thema sensibilisiert sind.

https://swisspainsociety.ch/de/mitglieder/liste-der-mitglieder/

Wie chronische Schmerzen entstehen

1. Muskuläre Probleme: Phsychische und physische Belastungen oder Fehlhaltungen bei der Arbeit lösen Verspannungen und Durchblutungsstörungen aus. 

2. Erste Schmerzen: Erste Schmerzen haben Auswirkungen auf Psyche und Wohlbefinden. Es sind Stresszeichen. 

3. Ausgeprägter Schmerz: Starke Schmerzen quälen bei alltäglichen Aufgaben. Sie führen zu erheblichen psychischen und physischen Belastungen. 

4. Chronischer Schmerz: Chronische Schmerzen schränken den Bewegungsapparat ein. Es folgt Muskelschwund, die Lebensqualität sinkt. 

5. Schlafentzug: Zunehmende Schmerzzustände verursachen Schlafmangel. Dem Körper fehlen Regenerationszeiten. 

6. Wahrnehmung: Der Schmerz wird als Warnsignal für ein körperliches Problem verstanden. Die rein medizinische Suche nach der Ursache verläuft unbefriedigend. 

7. Soziale Auswirkungen: Die Einschränkungen bedrohen das soziale Miteinander. Ausfälle durch Krankheit können zum Verlust des Arbeitsplatzes führen. 

 

Journalist: Thomas Ferber
Datum: 07.02.2023