Diagnose: chronische Schmerzen
PROF. DR. MED. KONRAD STREITBERGER
Zentrumsleiter Anästhesiologie und Schmerzzentrum Inselspital
Projektleiter PrePaC
Einer von fünf Erwachsenen leidet in Europa an chronischen Schmerzen, schweizweit sind es rund 10 bis 40 Prozent der Bevölkerung. Erst seit Kurzem gelten chronische Schmerzen als eigenständiges Krankheitsbild.
Prof. Streitberger, seit 2019 werden chronische Schmerzen von der Weltgesundheitsorganisation WHO als eigenständige Erkrankung klassifiziert. Was bedeutet das konkret?
Prof. Konrad Streitberger: Chronische Schmerzen galten lange Zeit, trotz ihrer Häufigkeit und schweren Folgen, lediglich als Begleiterscheinungen anderer Krankheiten. Chronische Schmerzen führen jedoch zu Veränderungen am zentralen Nervensystem und erfüllen somit die Kriterien einer eigenständigen Krankheit. Die neue internationale Klassifikation für Diagnosen der WHO (ICD-11) trägt dieser Tatsache erstmals Rechnung.
Was bedeutet es für Betroffene, dass ihre Schmerzen nun als eigenständige Diagnose gelten?
Streitberger: Für die Patient*innen kann es eine Erleichterung sein. Denn oft erleben sie in ihrem sozialen Umfeld, beim Arbeitgeber oder auch bei Ärzt*innen, dass sie mit ihren Schmerzen nicht ernst genommen werden. Schmerzen sieht man den Betroffenen meist nicht an und oft gibt es keine körperliche Diagnose dafür. Nicht selten werden sie als Simulanten abgestempelt.
Die Klassifikation chronischer Schmerzen basiert auf dem sogenannten biopsychosozialen Modell. Was versteht man darunter?
Streitberger: Das biopsychosoziale Krankheitsmodell verweist auf eine dynamische Wechselwirkung von Biologie/Körper, Psyche und sozialem Umfeld in der Krankheitsentstehung. Bei Beurteilung, Diagnose und Therapie von chronischen Schmerzen müssen immer alle drei Dimensionen mitberücksichtigt werden. Das bedeutet, dass der Mensch ganzheitlich betrachtet werden muss und auch bei Entscheidungen für oder gegen körperliche Therapiemassnahmen, wie beispielsweise eine Operation, psychosoziale Komponenten mitberücksichtigt werden sollten.
Wir wissen heute, dass es bei akuten Schmerzen schon nach Tagen neuronale Verknüpfungen im Nervensystem gibt, die in Kombination mit Angst, Schmerz oder Stress entstehen. Jemand, der unter Angst oder Stress leidet, hat somit ein höheres Risiko, dass der Schmerz chronifiziert.
Können Sie dazu ein Beispiel machen?
Streitberger: Eine Verletzung als biologische Ursache verursacht Schmerzen, die unter belastenden sozialen Umständen wie etwa einem drohenden Arbeitsplatzverlust, durch negative psycho-logische Einflüsse (zum Beispiel erhöhter Angst und Stress) noch verstärkt werden. Derselbe Mechanismus funktioniert auch in positiver Richtung und kann in der Therapie mit stressreduzierenden Massnahmen und sozialer Unterstützung entsprechend genutzt werden.
Weshalb sind psychosoziale Faktorenmassgeblich daran beteiligt, dass ein akuter Schmerz chronifiziert?
Streitberger: Wir wissen heute, dass es bei akuten Schmerzen schon nach Tagen neuronale Verknüpfungen im Nervensystem gibt, die in Kombination mit Angst, Schmerz oder Stress entstehen. Jemand, der unter Angst oder Stress leidet, hat somit ein höheres Risiko, dass der Schmerz chronifiziert. Wichtig ist deshalb, dass neben den biologischen auch psychologische und soziale Faktoren frühzeitig untersucht werden, damit die weitere Schmerzentwicklung unterbunden werden kann.
Stichwort frühzeitige Diagnose: Trotz der zunehmenden Bekanntheit chronischer Schmerzen als eigenständige Krankheit, haben die Betroffenen oft einen langen Leidensweg hinter sich. Weshalb?
Streitberger: Leider sehen wir noch immer viele Patient*innen, deren chronische Schmerzen über Jahre oder Jahrzehnte anhalten. Sie haben oft eine Odyssee von Spezialist*in zu Spezialist*in hinter sich, ohne dass die psychosoziale Situation abgeklärt wurde. Es braucht deshalb Sensibilisierung, insbesondere auch bei Hausärzt*innen, die häufig die erste Ansprechperson für Schmerzpatient*innen sind und dann auch den Überblick über die Abklärungen und Behandlungen behalten sollten. Für die Diagnose und Therapie von chronischen Schmerzen ist eine frühe interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit notwendig, die leider oft viel zu spät erfolgt.
Sie setzen sich für die Präventionvon chronischen Schmerzen ein und haben dazu aktuell das vierjährige PrePaC Projekt lanciert. Weshalb liegt Ihnen dieses Thema so am Herzen?
Streitberger: Wir sehen oft Schmerzpatient*innen mit einem jahrelangen Leidensweg, die in einem Teufelskreis stecken. Je länger die Schmerzen anhalten, desto mehr steigt das Risiko, sozial benachteiligt zu werden und an Depressionen zu erkranken, was wiederum die Schmerzen verstärkt. Andererseits sind vorbestehende soziale Benachteiligung und psychische Probleme selbst Risikofaktoren für die Entwicklung chronischer Schmerzen. Mit gezielter Aufklärung verfolgt unser Projekt nun das Ziel, Patient*innen mit akuten Schmerzen durch frühe präventive Massnahmen so zu unterstützen, dass sie sozial integriert bleiben und vor einer Chronifizierung bewahrt werden.
Wie erleben sie die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit; sind chronisch Schmerzen als eigene Krankheit akzeptiert?
Streitberger: Jein. Das Bewusstsein wächst, jedoch ist das Wissen rund um chronische Schmerzen noch zu wenig verbreitet. Leider wird immer noch zu lange und mit zu hohen Erwartungen nach nur körperlich angehbaren Ursachen gesucht. Dies erhöht oft den individuellen Stress und dadurch das Risiko einer Schmerzsensibilisierung. Deshalb ist auch einer unserer Schwerpunkte, gesellschaftlich ein Bewusstsein für das Thema Schmerz in einem biopsychosozialen Kontext zu schaffen.
Prevention of Pain Chronification (PrePaC)
Prevention of Pain Chronification (PrePaC) ist ein Projekt zur frühen aktiven Prävention von chronischen Schmerzen. Es wird durchgeführt in Zusammenarbeit mit der Projektförderung PGV von Gesundheitsförderung Schweiz.
Mehr erfahren: www.gesundheitsfoerderung.ch
Datum: 10.08.2023