Chronische Schmerzen

Multimodale Schmerztherapie: Ein ganzheitlicher Ansatz zur Schmerzlinderung

Multimodale Schmerztherapie: Frau malt im Garten
Multimodale Schmerztherapie Experte Mathias Falk

DR. MED. MATTHIAS ULRICH FALK
Ärztlicher Direktor a.i. Schmerzklinik Basel
Facharzt Rheumatologie und Allgemeine Innere Medizin FMH

Viele Betroffene von chronischen Schmerzen sind in einem Teufelskreis aus Inaktivität, sozialem Rückzug und psychischen Problemen gefangen. Die multimodale Schmerztherapie kann dabei helfen, diesen Kreislauf zu durchbrechen.

Dr. Falk, Sie sind ärztlicher Direktor der Schmerzklinik Basel. Weshalb ist es so wichtig, zwischen chronischen und akuten Schmerzen zu unterscheiden?

Dr. med. Matthias Ulrich Falk: Akute Schmerzen haben in aller Regel eine nützliche Aufgabe. Sie schützen uns vor Gefahren, wie zum Beispiel dem Berühren einer heissen Herdplatte. Chronische Schmerzen haben in vielen Fällen diese Warn- und Schutzfunktion verloren und es ist oft schwierig, eine eindeutige lokale Ursache festzustellen. Wir verwenden hierbei das sogenannte bio-psycho-soziale Schmerzmodell, um die Beschwerden zu erklären. Es berücksichtigt, dass neben strukturellen Veränderungen im Körper auch soziale und psychische Vorgänge eine Rolle spielen. Sehr wichtig ist dabei zu verstehen, dass chronische Schmerzen auch Veränderungen auf der Ebene des zentralen Nervensystems nach sich ziehen und dadurch die Persönlichkeit der Patient*innen verändern können. Dass ein chronischer Schmerz hierbei sogar als eigenständige Krankheit verstanden werden muss, hat die Welt-Gesundheits-Organisation in der aktuellen Neuentwicklung der internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD11) gewürdigt und eine eigene Kategorie hierfür geschaffen.

 

Wie lassen sich chronische Schmerzen behandeln?

Dr. Falk: Die Behandlungswege sind so vielfältig wie die Patient*innen, die zu uns kommen. Oft lässt sich ein primärer Ausgangspunkt von chronischen Schmerzen ausmachen, der natürlich in den Fokus genommen werden muss. Viele Betroffenen sind jedoch in einem Teufelkreis von chronischen Schmerzen gefangen. Dieser Teufelskreis besteht in der Regel aus einer sich gegenseitig verstärkenden Abfolge von zunehmender Inaktivität, Rückzug, beruflichem und sozialem Abstieg. Dass es dann häufig zur Entwicklung von psychischen, meist depressiven Symptomen kommt, ist nur allzu verständlich. Die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit, beziehungsweise die Fähigkeit, Störungen durch Anpassung zu kompensieren, ist hierbei besonders wichtig. Aufgrund dieser Komplexität ist empirisch klar, dass meist nur mehrdimensionale Konzepte wie eine multimodale Schmerztherapie diesen Teufelskreis durchbrechen können. Der multimodalen Schmerztherapie wurde daher in den gängigen Leitlinien ein hoher Stellenwert in der Behandlung von chronischen Schmerzen zugeschrieben.

 

Was macht eine multimodale Schmerztherapie aus?

Dr. Falk: «Multimodal» bedeutet hier die Kombination verschiedener Therapietechniken wie Physiotherapie, lokalen Injektionen, Medikamenten und gegebenenfalls psychologischer oder psychiatrischer Unterstützung. Auch eine Begleitung in sozialen Fragen oder bei einer beruflichen Anpassung ist bei chronischen Schmerzen enorm wichtig. Letztlich geht es darum, strukturelle Veränderungen zu kompensieren, die Resilienz-Faktoren zu stärken und die Betroffenen aus dem beschriebenen Teufelskreis zu führen.

 

Wie ist der Ablauf einer multimodalen Schmerztherapie?

Dr. Falk: Wir müssen in der Therapie einen individuellen Zugang zu den Patient*innen finden. Die ärztlichen Tätigkeiten bestehen hierbei nach anfänglichen Abklärungen in der Regel aus medikamentöser Therapie oder gezielten Injektionen. Wir blockieren hierbei zum Beispiel die Schmerzübertragung durch Injektion von Medikamenten an die Nerven der Wirbelsäule oder an die peripheren Nerven. Auch Injektionen in die Gelenke können wichtig sein.

Neben der klassischen Schulmedizin setzen wir jedoch auch komplementärmedizinische Therapien ein: In der Schmerzklinik Basel besteht ein Angebot an Traditioneller Chinesischer Therapie, Akupunktur und Homöopathie. Daneben haben wir eine grosse Abteilung für Neuraltherapie im Hause sowie ein sehr grosses Team der Physiotherapie. Wir bieten Kunst- und Maltherapie an und haben auch unser Team um Ergotherapie ergänzt.

Auch auf den ersten Blick weniger offensichtliche Therapieansätze können im Einzelfall wichtig und Teil der multimodalen Schmerztherapie sein: Es ist zum Beispiel bekannt, dass Raucher*innen eine vermehrte Schmerzwahrnehmung haben. Die multimodale Therapie kann daher auch durch unser Nikotin-Entwöhnungsprogramm ergänzt werden. Etwas offensichtlicher ist ein schädlicher Einfluss von Übergewicht oder einer Fehlernährung auf den Bewegungsapparat. Falls dies relevant ist, unterstützen wir die Patienten*innen via unsere Ernährungsberatung bei der Gewichtsreduktion. Im Weiteren haben Untersuchungen auch den positiven Einfluss von erholsamem Schlaf auf eine Reduktion von chronischen Schmerzen untermauert. Es wird von uns daher in aller Regel überprüft, wie wir hier unterstützen können; sei es durch Entspannungsverfahren oder Medikamente.

Multimodale Schmerztherapie: Mann auf Wanderung

Welche Herausforderungen bestehen bei der multimodalen Therapie?

Dr. Falk: Aufgrund der Schmerzen sind viele Patient*innen an eine gewisse Passivität gewöhnt. Daten zeigen jedoch, dass rein passive Therapiemassnahmen oft nicht nachhaltig sind. Auch wenn passive Massnahmen unter Umständen zu Beginn der Therapie wichtig sind, sollten Patient*innen zunehmend körperlich aktiver werden. Meist geht hiermit auch eine Verbesserung der psychischen Verfassung einher. Wie dargestellt ist zur Aktivierung der Resilienz-Faktoren und Reduzierung der Schmerzschwelle eine ganzheitliche Behandlung notwendig. Aufgrund des zunehmenden Kostendrucks im Gesundheitswesen erkennen die Leistungsträger jedoch leider immer weniger an, dass ein unimodaler Therapieansatz oft nicht zum Erfolg führt. Die Folgekosten für die Sozialsysteme durch unzureichende Therapieangebote sind aber aus meiner Sicht letztlich höher.

 

Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine multimodale Schmerztherapie?

Dr. Falk: Nach rund einem Zeitraum von sechs Wochen bis drei Monaten spricht man von chronischen Schmerzen. Die Datenlage zeigt klar, dass eine rasche Therapie besser eine Chronifizierung und den beschriebenen Teufelskreis durchbrechen kann. Daher sollte möglichst zumindest eine bi-modale Therapie (z.B. Medikamente und Physiotherapie) nach ca. 6 Wochen erfolgen. Eine multimodale Therapie zu beginnen, ist im Grunde nie zu spät. Die Prognose einer substantiellen Heilung nimmt jedoch mit der Dauer der Beschwerden eher ab. In der Schweiz wie auch in benachbarten europäischen Ländern entspricht die Höhe der Gesundheitsausgaben für Rückenschmerzen in etwa derjenigen für den Wehretat. Durch eine eher frühzeitige Behandlung könnten meiner Ansicht nach gesundheitliche Schäden wie auch soziale und gesellschaftliche Folgen abgefedert werden.

«Aufgrund der Schmerzen sind viele Patient*innen an eine gewisse Passivität gewöhnt. Daten zeigen jedoch, dass rein passive Therapiemassnahmen oft nicht nachhaltig sind.»

Dr. Mathias Ulrich Falk

Sie bieten eine multimodale Schmerztherapie auch stationär an. Was sind hier die Besonderheiten gegenüber einer ambulanten Behandlung?

Dr. Falk: Die stationäre Therapie umfasst vor allem eine deutlich intensivere physikalische und psychologisch-psychiatrische Behandlung, als dies ambulant möglich ist. Zudem wird die Therapie mit komplementärmedizinischen Methoden ergänzt. Dadurch werden sowohl die Anzahl als auch die Intensität der Therapiesitzungen deutlich über das Niveau hinaus erweitert, als dies bei ambulanten Angeboten oder stationären Rehabilitationsprogrammen üblich ist. Zudem kann es therapeutisch wichtig sein, den Patienten oder die Patientin für eine gewisse Zeit aus dem bestehenden Sozialgefüge zu führen, um einen Neuanfang zu ermöglichen. Spätestens bei einer mehrmonatigen Arbeitsunfähigkeit durch chronische Schmerzen wäre ein stationärer Aufenthalt sinnvoll. Die Wirksamkeit von stationären Aufenthalten ist auch durch Studien belegt. Der ideale Zeitpunkt einer stationären Schmerzkomplextherapie richtet sich einerseits nach der Dauer der Schmerzen, den Auswirkungen und natürlich dem Leidensdruck beziehungsweise der Schmerzstärke.

 

Wie setzen Sie in der Schmerzklinik Basel die multimodale Therapie um?

Dr. Falk: Es ist klar, dass ein gewisses Team-Play nötig ist, um einen Therapieerfolg zu erreichen. In der Folge kann meist nicht nur eine bestimmte ärztliche Fachrichtung alleine den Patienten*innen ausreichend helfen. Wir haben in der Schmerzklinik hierzu ein Managing Doctor System etabliert. Jeder Patient und jede Patientin hat einen ärztlichen Ansprechpartner, der die Behandlung korrdiniert und gegebenenfalls die Überweisung an andere Abteilungen vornimmt. Neben meinem eigenen Fachgebiet der Rheumatologie bieten wir eine orthopädische, neurologische, rehabilitative, schmerztherapeutische, anästhesiologische und natürlich komplementärmedizinische Abklärung und Betreuung an. Ohne ein hervorragendes Team von Ärzt*innen, Therapeut*innen und empathischen Mitarbeitenden könnten wir diese Aufgabe nicht bewältigen. Ich bin immer wieder stolz, dass wir hierdurch auch Patient*innen helfen können, denen an anderen Stellen keine Möglichkeiten mehr offeriert werden.


Datum: 02.08.2023