Multiple Sklerose

«Ich habe einen unbändigen Hunger aufs Leben!»

Doris hat seit über 30 Jahren Multiple Sklerose mit teils extremen Nervenschmerzen. Dennoch bezeichnet sie die MS als Freundin, mit der sie klarkommen muss. «Sie ist meine Wegbegleiterin und ich habe sie als solche akzeptiert», sagt Doris.»

Doris versprüht eine unbändige Lebensfreude und Energie, ihre Begeisterung ist ansteckend, als sie von ihren Träumen erzählt. «Ich habe einen unbändigen Hunger aufs Leben und möchte noch so viel erleben, dass ich mindestens 120 Jahre alt werden muss», lacht die 54-Jährige.

Als 19-Jährige leidet Doris wiederholt an Taubheitsgefühlen und Lähmungen, die Ärzte wissen nicht weiter und schieben ihre Beschwerden auf die Psyche. Erst sieben Jahre später wird mittels einer MRI-Untersuchung die Diagnose Multiple Sklerose gestellt. «Es war Erleichterung und Schock zugleich», erinnert sich Doris. Sie und ihr Mann mit zwei kleinen Kindern hatten gerade mehrere Familienbetriebe übernommen und steckten mitten im Hausbau. «Die Frage nach dem ‹wie weiter› tauchte da unweigerlich auf», so Doris. Zugleich blieb keine Zeit, um mit dem Schicksal zu hadern. «Ich weinte mich damals bei einem Geistheiler aus und wusste danach, dass das nun mal mein Weg ist und ich meinen ‹Hintern zusammenkneifen› muss». Anpacken, annehmen, vertrauen und nach vorne blicken ist seither Doris Lebensmotto, ihr starker Glaube hilft ihr dabei. Sie hat die Krankheit und die damit verbundenen Schmerzen als ihre Begleiterin, ja als Freundin akzeptiert. Eine Freundin, die sie immer wieder hart auf die Probe stellt.

 

Schmerzen wie ein glühendes Messer

Zehn Jahre ihres Lebens leidet Doris an extremen Nervenschmerzen im ganzen Körper. Täglich, praktisch konstant und von einer wahnsinnigen Intensität. Als glühendes Messer, das sich durch ihren Körper schneidet, beschreibt sie Doris. «Wenn diese Schmerzen da waren, dachte ich mehr als einmal an Selbstmord. Hauptsache die Schmerzen gehen weg». Doris rennt von Arzt zu Arzt, probiert alle möglichen und unmöglichen Therapien, versucht es mit Haschisch, mit Geistheilern und vielversprechenden Kuren. Aber kaum etwas hilft, die Ärzte sind ratlos, Doris fühlt sich unverstanden und verzweifelt. Ihre Lebensqualität ist auf einem Tiefpunkt, funktionieren muss sie trotzdem.

«Meine Familie gab mir Halt, die Gespräche mit meinem Mann. Und Ablenkung half zumindest ein bisschen». Dennoch hätten ihre inzwischen erwachsenen Söhne häufig mitbekommen, wie schlecht es ihrer Mama ging. «Das hat sich bei ihnen eingebrannt und sie fragen mich auch heute oft, ob es mir denn wirklich gut gehe», so Doris.

Gespräche mit ihrem Mann haben Doris sehr geholfen.

«Meine Lebensqualität ist zurück»

Dass es Doris heute richtig gut geht, dass sie tausend Pläne schmiedet und vor lauter Energie kaum zu bremsen ist, hat sie ihrer neuen Therapie zu verdanken. Seit einiger Zeit wird Doris mit Morphinpräparaten behandelt und zum ersten Mal seit Jahren steht der Schmerz nicht mehr im Vordergrund. Unumwunden sagt Doris: «Ich weiss, dass diese Medikamente abhängig machen. Aber es geht mir gut und das ist es allemal wert. Meine Lebensqualität ist zurück». Die Schmerzen seien nicht ganz verschwunden, aber nun auf einer anderen Ebene und erträglich. «Ich blühe auf, bin so aktiv und habe Ideen für fünf Leben», erzählt die gebürtige Österreicherin. Davon profitiert auch ihr Umfeld: als Sekretärin kümmert sie sich um die Finanzen der beiden Familienbetriebe und als Samariterin bereitet sie sich auf das Amt der Präsidentin vor. Sie tanzt Zumba, geht ins Fitnessstudio, macht Physiotherapie und ist draussen in der Natur in Bewegung. Stillstand ist nicht ihr Ding. Übertreibt es Doris, so rüttelt manchmal ihre MS-Freundin an ihr und ermahnt sie, es etwas ruhiger angehen zu lassen. «Wenn es im Gesicht kribbelt, weiss ich, dass ich einen Gang runter schrauben sollte», lacht Doris.

 

Schwierig, Tipps zu geben

Auf die Frage, ob sie anderen Betroffenen Tipps geben kann, reagiert Doris zögerlich. Sie habe von anderen Patient*innen immer wieder Sätze gehört wie «warte nur, in ein paar Jahren bist du auch im Rollstuhl oder hast dieses oder jenes.» Diese Erfahrung sei für sie sehr negativ gewesen und sie habe den Kontakt zu anderen Betroffenen deshalb eher gemieden. «MS ist eine Krankheit mit so vielen Gesichtern, kein Verlauf gleicht dem anderen und jeder muss für sich herausfinden, was ihm hilft». Man dürfe jedoch nie den Glauben daran verlieren, dass es einen Weg gibt. Auch wenn es noch so aussichtslos scheint. «Ich bin das beste Beispiel dafür!», so Doris.

Wenn man Doris fragt, was sie ihrer Krankheit sagen würde, antwortet sie ohne zu zögern: «Wir sind Freunde und nicht Feinde. Wir schaffen das!» Für sie ist es wichtig, eine positive Beziehung zur MS zu pflegen, indem sie sich darauf konzentriert, was sie gemeinsam erreichen können, anstatt sich von der Krankheit besiegen zu lassen.

Journalistin: Anna Birkenmeier
Datum: 02.08.2023