Multiple Sklerose

Schmerzen bei MS: Darüber sprechen ist der erste Schritt zur Besserung

Junger Mann in Stadt
PD Dr. med. Athina Papadopoulou

PD Dr. med. Athina Papadopoulou
Oberärztin MS Zentrum
Leiterin der Kopfschmerzsprechstunde
Universitätsspital Basel

Viele MS-Patient*innen sind von Schmerzen betroffen, die teils quälend sein können. Es ist sehr wichtig, dass Betroffene in der Praxis vorsprechen und ihre Schmerzen thematisieren. Nur dann kann eine gezielte schmerzlindernde Behandlung erfolgen.

Wie viele MS Betroffene leiden unter Schmerzen?

PD Dr. med. Athina Papadopoulou: Die Häufigkeit wird je nach beigezogener Studie unterschiedlich angegeben. Die meisten Studien sprechen von 25 bis 50%. Das ist häufig. Im Schweizerischen MS Register sind es ca. 47% der an MS Erkrankten, die unter Schmerzen leiden*.

 

Warum entstehen Schmerzen bei einer MS?

Papadopoulou: Es gibt unterschiedliche Ursachen. Am häufigsten entstehen Schmerzen bei MS aufgrund der Schädigung von Nervenstrukturen des zentralen Nervensystems, das heisst von Gehirn und Rückenmark sowie die darin enthaltenen Nervenbahnen. Diese Schmerzen heissen «neuropathische Schmerzen», oder «Nervenschmerzen».

Es gibt aber bei MS auch «indirekte» Schmerzursachen, z.B. Schmerzen der Beine, die durch «Spastik (muskuläre Verkrampfungen) ausgelöst werden. Auch Fehlbelastungen im Bewegungsapparat (z.B. aufgrund von Lähmungen) können Schmerzen verursachen, z.B. Rücken-, Fuss- oder Kniegelenksschmerzen. Ausserdem treten Kopfschmerzen bei MS Betroffenen häufiger als in der Allgemeinpopulation auf.

«Ausserdem gibt es häufig Schmerzen bei MS die sich schleichend entwickeln, unabhängig von Schüben.»

Dr. Athina Papadopoulou

Sind die Schmerzen chronisch oder akut?

Papadopoulou: Die MS ist ein chronisches Leiden und daher treten die Schmerzen meistens chronisch, aber mit Fluktuationen über eine längere Zeit auf – einmal stärker, einmal schwächer.

 

Treten Schmerzen bei MS wie andere Symptome in Schüben auf?

Papadopoulou: MS-Schübe führen zu neurologischen Symptomen, die meistens schmerzlos sind (z.B. weniger Gefühl oder Kraft, Doppelbilder, Gleichgewichtsstörungen etc.). Allerdings gibt es MS-Schübe die schmerzhaft sein können, z.B. die Sehnervenentzündung, mit Schmerzen hinter dem Auge oder Schübe im Rückenmark, welche schmerzhafte Gefühlstörungen z.B. in den Beinen verursachen können. Meistens wird nach der Schubbehandlung auch der Schmerz besser, kann jedoch manchmal verbleiben und immer wieder an- und abschwellen. Ausserdem gibt es häufig Schmerzen bei MS die sich schleichend entwickeln, unabhängig von Schüben.

 

Wie sind die Chancen, dass solche Schmerzen spontan verschwinden?

Papadopoulou: Das hängt von der Ursache der Schmerzen ab. Die „neuropathischen Schmerzen“ (häufigste Ursache bei MS) haben leider meistens einen chronischen Verlauf und verschwinden selten spontan. Das Thematisieren und die Behandlung sind somit sehr wichtig.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Papadopoulou: Bei starken Schmerzen –wie oft bei Nervenschmerzen der Fall-  sind Medikamente unerlässlich. In der Regel werden nicht die gängigen Schmerzmittel eingesetzt, sondern spezielle Mittel. Eine Möglichkeit sind Medikamente, die auch gegen Epilepsie eingesetzt werden. Diese können vor allem bei einschiessenden Schmerzen gut wirken und werden je nach vorherrschenden Symptomen massgeschneidert verschrieben. Sie können gleichzeitig gegen Spastik oder gegen Angstsymptome wirken. Die zweite Gruppe von Medikamenten, die wir häufig anwenden, sind bestimmte Antidepressiva, welche die Schmerzwahrnehmung im Gehirn reduzieren. Bei Schmerzen durch Spastik können auch synthetische Cannabinoide (Cannabisprodukte ohne Rauschwirkung) in Form von Mundspray eine Wirkung zeigen.

Wichtig ist zudem, dass auch nicht-medikamentöse Massnahmen frühzeitig in das Behandlungskonzept integriert werden. Physiotherapie ist insbesondere bei Spastik und Mobilitätsproblemen essentiell. Bei Kopfschmerzen wurden gute Erfahrungen mit der Akkupunktur gemacht. «Alternative» Therapien können ebenfalls helfen. So setzen wir z.B. auch die Hoffnung auf die Musiktherapie und warten derzeit auf die Ergebnisse einer Studie zu dieser Therapieform, die an unserem Zentrum durchgeführt wurde. Meistens funktioniert eine Kombination mehrerer Methoden.

 

Wer ist bei all diesen Schmerzproblemen Ansprechpartner für die Betroffenen?

Papadopoulou: Oft werden Schmerzen im Rahmen der MS-Sprechstunde nicht thematisiert, weil andere Themen für den Arzt im Vordergrund stehen (Schübe, Mobilität, MS-Therapie etc.). Es ist jedoch wichtig, dass die Betroffenen ihren Neurolog*innen von den Schmerzen berichten. Die Neurolog*innen, welche den Überblick über das Krankheitsgeschehen bei MS haben, können zu Beginn die Schmerzsymptome aufnehmen und behandeln. Handelt es sich um ein komplexes Schmerzgeschehen, könnte aber auch eine Überweisung zu Schmerzspezialist*innen erfolgen.

«In meiner Erfahrung hat alleine die regelmässige Besprechung der Schmerzen und der Therapieoptionen bereits einen positiven Effekt auf die Lebensqualität.»

Dr. Athina Papadopoulou

Eine wichtige Botschaft ist somit, dass sich die Betroffenen melden und über ihren Schmerz sprechen. 

Papadopoulou: Korrekt, es ist wichtig, dass sich die Betroffenen früh melden und den Schmerz ansprechen, um einen chronifizierten Verlauf sowie die negativen Auswirkungen von unbehandelten Schmerzen (auf Psyche, Lebensqualität etc.) zu minimieren. In meiner Erfahrung hat alleine die regelmässige Besprechung der Schmerzen und der Therapieoptionen bereits einen positiven Effekt auf die Lebensqualität, da Schmerzen sonst nicht sichtbar sind und die Betroffenen oft «nicht verstanden» werden und sich verzweifelt fühlen. Somit wäre meine Botschaft: Sprechen Sie darüber mit ihrer Neurologin oder ihrem Neurologen!

 

*Quelle: https://www.multiplesklerose.ch/de/aktuelles/detail/fatigue-und-schmerzen-daten-aus-dem-schweizer-ms-register/

Journalist: Thomas Ferber
Datum: 23.03.2024