Chronische Schmerzen

«Die Erwartungs­haltung an Schmerz­mittel ist zu hoch»

Schmerzmittel Uebergebrauch: Mann mit Pflanze
Schmerzmittel Uebergebrauch Expertin Susanne Hartmann

Dr. Susanne Hartmann-Fussenegger
Fachärztin für Neurologie
Schmerzzentrum
Kantonsspital St. Gallen

Der Griff zur Schmerztablette hilft zumeist schnell beim akuten Schmerz. Über einen längeren Zeitraum sollten diese allerdings nicht eingenommen werden, Folgeschäden drohen!

Dr. Susanne Hartmann-Fussenegger ist Fachärztin für Neurologie am Schmerzzentrum des Kantonsspitals St. Gallen und spricht mit uns über die Vorteile und die Gefahren von Schmerzmedikamenten.

 

Laut einer Gesundheitsbefragung des Bundesamtes für Statistik BfS nimmt jeder vierte Schweizer*in wöchentlich Schmerzmittel zu sich. Eine alarmierende Zahl?

Susanne Hartmann-Fussenegger: Bei Schmerzmitteln muss man unterscheiden, ob sie bei akuten oder chronischen Schmerzen eingesetzt werden. Wenn man beim akuten Schmerz Schmerztabletten einnimmt, ist das in der Regel in Ordnung und nach wenigen Tagen ist der Schmerz deutlich gelindert. Anders bei wiederkehrenden Schmerzen, wie Kopfweh – werden hier täglich oder mehrmals wöchentlich Schmerzmedikamente eingesetzt, kann dies auch zu Schaden führen.

 

Sie sprechen die Kopfschmerzübergebrauchs–Problematik an?

Susanne Hartmann-Fussenegger: Ja, zum Beispiel. So kann etwa die regelmässige Einnahme von Schmerzmitteln die Kopfschmerzhäufigkeit erhöhen und im schlimmsten Fall zu chronischen Kopfschmerzen führen. Aber auch Magengeschwüre sowie Nieren- und Leberschäden können als Folgeschäden auftreten.

 

Unzureichend behandelte akute Schmerzen sind hingegen auch ein Risikofaktor für die Entwicklung chronischer Schmerzen. Was raten Sie, wenn die akuten Schmerzen nicht nach einigen Tagen verschwinden?

Susanne Hartmann-Fussenegger: Braucht man regelmässig Schmerzmittel oder wirken diese unzureichend, sollte man unbedingt eine Ärztin / einen Arzt aufsuchen. Nimmt man die herkömmlichen Analgetika über einen zu langen Zeitraum ein, können sie ihre Wirkung verlieren.

Bei chronischen oder wiederkehrenden Schmerzen kommen nicht die klassischen Schmerzmittel zum Einsatz, sondern sogenannte Koanalgetika, die von der Verträglichkeit her besser sind, jedoch anders wirken. Die Schmerzen verschwinden in der Regel nicht komplett, sondern es stellt sich eine schmerzdistanzierende Wirkung ein. Das heisst, dass der Schmerz zwar noch da ist, aber erträglich wird und den Alltag nicht mehr so sehr einschränkt.

Schmerzmittel Uebergebrauch: Mann wässert Pflanze

Der Schmerz dient eigentlich als Warnfunktion – was läuft beim chronischen Schmerz schief?

Susanne Hartmann-Fussenegger: Die Warnfunktion des akuten Schmerzes kommt aus unserer phylogenetischen Entwicklung, als wir noch Jäger und Sammler waren. Haben wir uns verletzt, diente der Schmerz dazu, uns zur Schonung und Ruhe anzuhalten. Beim chronischen Schmerz hingegen geht diese Warnfunktion verloren und die eigentliche Schutzfunktion wird zur Krankheit. Obschon etwa eine Verletzung längst verheilt ist, sendet der Nerv weiterhin Reize, chronische Schmerzen entstehen. 

 

Schmerzmittel spielen eine eher untergeordnete Rolle in der Therapie von chronischen Schmerzen. Welche Behandlung kommt stattdessen zum Einsatz?

Susanne Hartmann-Fussenegger: Chronische Schmerzen sind immer von mehreren Dimensionen beeinflusst, wir sprechen daher von dem bio-psycho-sozialen Schmerzmodell. Deshalb ist es wichtig, dass man chronische Schmerzen ganzheitlich betrachtet und als Ärztin/ Arzt auch die Psyche und das soziale Umfeld des Patienten miteinbezieht. Wichtig hierbei ist das Selbstmanagement – die Patient*innen lernen mit dem Schmerz umzugehen, sie kennen sich und ihre Schmerzsituationen, wissen, was ihnen guttut und wo ihre Grenzen sind. Ich erlebe viele Betroffene, die zwar nicht schmerzfrei, aber wieder ihr eigener Chef sind, selbstbestimmt mit deutlich höherer Lebensqualität.

Werden mehrmals wöchentlich Schmerzmedikamente eingesetzt, kann dies zu Schäden führen. 

Dr. Susanne Hartmann-Fussenegger

Wünscht sich nicht jeder Patient eine komplette Schmerzfreiheit?

Susanne Hartmann-Fussenegger: In der Tat suggerieren uns auch die Medien, dass man keine Schmerzen haben muss – die Erwartungshaltung an Schmerzmittel ist deshalb entsprechend hoch. In der Realität erfüllt sich das zumeist nicht. Chronischen Schmerzpatienten helfen vielmehr realistische Therapieziele und Hilfestellungen, die im Alltag umgesetzt werden können. In unserer Arbeit haben Schmerzmittel einen relativ niedrigen Stellenwert. Ein viel wichtigerer Faktor ist zum Beispiel Bewegung. Viele Patient*innen denken, dass es schadet, wenn man sich trotz Schmerzen bewegt und belastet – in der Regel ist das Gegenteil der Fall. Wir fordern die Patient*innen auf, dass sie wieder aktiv werden und ihre Belastbarkeit langsam steigern.

 

Zum Schluss: Welche Tipps haben Sie im Umgang mit Schmerzmitteln?

Susanne Hartmann-Fussenegger: Akuter Schmerz lässt sich zumeist gut mit rezeptfreien Schmerzmitteln behandeln und sollte nach wenigen Tagen verschwunden sein. Ist dies nicht der Fall, konsultieren Sie einen Arzt!

Wer unter immer wiederkehrenden Schmerzen leidet, sollte frühzeitig einen Schmerzmediziner*in aufsuchen. Diese sind geschult auf die ganzheitliche Betrachtung der Schmerzursache. Je früher ein langanhaltender Schmerz behandelt wird, desto grösser sind die Erfolgsaussichten und umso geringer das Risiko der Schmerzchronifizierung!

Journalistin: Anna Birkenmeier
Datum: 13.07.2022