Multiple Sklerose

Die schwelende MS

Schwelende MS: Frau mit Hund
Schwelende MS Experte Robert Hoepner

PD DR. MED. ROBERT HOEPNER
Oberarzt an der Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital Bern

Die Multiple Sklerose (MS) kann nicht nur schubweise, sondern auch schleichend verlaufen. Werden schleichend auftretende Einschränkungen rechtzeitig erkannt, kann eine angepasste Behandlung den Krankheitsverlauf frühzeitig aufhalten.

PD Dr. med. Robert Hoepner, was ist die schwelende MS?

PD Dr. med. Robert Hoepner: Bei der MS handelt es sich um eine Entzündung. Die Entzündung kann in unterschiedlichen Formen auftreten akut mit dem klinischen Bild eines Schubs oder schwelend mit einer eher langsamen subtilen Verschlechterung. Im Unterschied zu einem Schub, den man als schnell ausbrechendes Feuer, das wieder erlischt, ansehen kann, kommt bei einer schwelenden MS die Entzündung nicht zur Ruhe. Die MS brennt also quasi wie ein Feuer unter der scheinbar verglühten Asche weiter. Dies führt im Ergebnis zu einer Zunahme der körperlichen und geistigen Behinderungen.

 

Was bezeichnet der Begriff PIRA?

Dr. Hoepner: Heute wissen wir, dass bei den in Schüben verlaufenden Krankheitsphasen in ganz frühen Stadien auch schon ein langsames unmerkliches Fortschreiten der Beeinträchtigung stattfinden kann. Dies wird als Progression independent of relapse activity, kurz PIRA, bezeichnet. In diesen Krankheitsabschnitten ist die körperliche Behinderung noch sehr gering. Trotzdem kann die Entzündung weiterschwelen und langsam zu weiteren Behinderungen führen. Der Beginn ist schleichend und die Verschlechterung ist weniger offensichtlich als bei einem Krankheitsschub.

 

Wie erkennt man eine PIRA?

Dr. Hoepner: Eine neurologische Untersuchung kann dies zutage fördern. Hierzu wird eine spezielle Leistungsskala verwendet, die den Schweregrad der Behinderung zum Zeitpunkt der Untersuchung angibt. Dazu werden jährlich unter anderem körperliche Funktionen wie Sensibilität und Motorik geprüft. Konkret bedeutet dies, dass getestet wird, ob die Betroffenen Einschränkungen bei alltäglichen Aktivitäten aufweisen, beispielsweise bei der Körperpflege, beim Gehen, oder bei der Bedienung von Geräten. Aufschlussreich sind beispielsweise die Gehfähigkeit und die zurückgelegte Gehstrecke. Wie weit können Erkrankte noch gehen? Ist eine Gehhilfe erforderlich? Alle Messergebnisse werden in Zahlenwerte umgesetzt. Die Summe der Ergebnisse zeigt im Vergleich mit früheren Untersuchungen, ob die Behinderung durch die Krankheit weiter fortgeschritten ist. Wichtig ist aber immer, dass der Mensch hinter den Zahlen gesehen wird. Bei Bedarf wird auch in kürzeren Abständen eine Messung durchgeführt, damit eine Therapie rechtzeitig eine Verschlechterung stoppen kann. Solche Messungen dokumentieren und rechtfertigen schliesslich den Bedarf für eine Therapie.

 

Wie erklären Sie Ihren Patient*innen eine schleichende Verschlechterung der Behinderung?

Dr. Hoepner: In der Regel spüren das die Patient*innen selbst. Vor allem jüngere Menschen haben heute Fitness-Tracker, mit denen sie teilweise über Jahre ihre körperliche Fitness aufzeichnen. Damit stellen Betroffene schleichende Verschlechterungen fest.

 

Was kann man gegen PIRA tun?

Dr. Hoepner: Der Krankheitsprozess lässt sich nicht rückgängig machen. Geschädigtes Nervengewebe wird nicht repariert oder ersetzt. Doch mit den heutigen Behandlungen wird der Krankheitsverlauf verzögert oder über längere Zeit aufgehalten. Alle Studien zeigen: Es ist sehr wichtig, dass die Behandlung früh einsetzt. Die Therapie erfolgt individuell und für Betroffene massgeschneidert und soll den Krankheitsprozess kontrollieren. Hier setzen wir sehr grosse Hoffnungen in eine neue Medikamentengruppe, welche gerade in vielen Phase 3 Studien untersucht werden.

Journalist: Thomas Ferber
Datum: 20.03.2024